Ich sitze wie so oft beim Schreiben in einem kleinen Café, das irgendwie sympathisch wirkt. Morgen geht’s zurück nach Karl-Marx-Stadt. Gerade komme ich von einem Gespräch mit Operation Orphan. Ich hatte mich mit Cyrilyn verabredet, einer Projektleiterin der Organisation. Schon vor Monaten hatten wir Kontakt, jetzt hat es endlich geklappt. Ich freute mich sehr – Operation Orphan ist für mich keine x-beliebige NGO, sondern eine der wichtigsten in diesem Krieg. Wir treffen uns an einem für mich seltsamen Ort. Sie schickt mir nur die Adresse und schreibt „Treffpunkt“. Als ich sie bei Google Maps eingebe, blinkt mir „Kiewer Höhlenkloster“ entgegen. Ich schicke ihr einen Screenshot und frage, ob das ernst gemeint ist. Ein Daumenhoch. Okay. Seltsam.
Als ich aus dem Taxi steige, steht sie bereits da. Lächelt. Begrüßt mich herzlich. Wir gehen gemeinsam rein. Sie zahlt die 400 Hrywnja Eintritt, wir laufen in den Klostergarten. „Ich bin ehrlich, ich bin verwirrt. Warum treffen wir uns hier?“, frage ich. „Für mich ist das ein magischer Ort“, sagt sie. „Ich bin nicht gläubig, aber ich finde es wunderschön.“ „Verständlich“, sage ich – und wir setzen uns auf eine Bank. Ich beginne aufzunehmen.
An der Grenze zwischen Moldau und der Ukraine endet der Krieg nicht. Er wechselt nur seine Gestalt. Aus Bomben wird Unsichtbarkeit. Aus Explosionen wird Isolation. Und aus Angst wird Dauerzustand – besonders für die, die keine Uniform tragen. Für Frauen mit Kleinkindern, die fliehen. Für Menschen wie Yana. Für alle, die durch den Krieg entwurzelt wurden und jetzt in einem fremden Land leben – ohne Sprache, ohne Kontakte, ohne Sicherheit.
Manche finden Unterschlupf bei Verwandten oder in Unterkünften, wenn es sie gibt. Andere verschwinden – verschluckt von Netzwerken, die aus Ausbeutung bestehen. Von Menschenhändlern, Vergewaltigern, mafiösen Strukturen. Genau da arbeitet Operation Orphan. Ohne Kameras. Ohne große PR. Ohne echte Bezahlung. Dafür mit Haltung.
Operation Orphan ist eine britische Organisation mit einem kleinen, engagierten Team. Ihr Ziel: gefährdete Kinder schützen – und zwar nicht abstrakt, sondern konkret. Aktuell vor allem an der moldauisch-ukrainischen Grenze. Dort, wo die Aufmerksamkeit längst weitergezogen ist und viele NGOs sich zurückgezogen haben. Orphan sitzt in keinem Fernsehstudio, hält keine Vorträge auf Konferenzen. Sie sitzen in Dörfern, in denen es keine Spielplätze mehr gibt. Bei Frauen, die nicht wissen, ob sie vom letzten Geld Windeln oder Brot kaufen sollen.
„Alle Frauen mit kleinen Kindern, die geflohen sind, waren dem Risiko ausgesetzt, Opfer von Menschenhandel zu werden“, sagt Cyrilyn. „Besonders jene ohne Geld, ohne Papiere, ohne Angehörige.“ Die Organisation hilft mit dem Nötigsten: Nahrung, Kleidung, Hygieneartikel, manchmal einfach mit der Möglichkeit, sich zu waschen. Aber das Wichtigste ist das, was man nicht fotografieren kann: Verlässlichkeit, Vertrauen, Zeit. Cyrilyn kennt die Familien. Sie besucht sie regelmäßig. Führt Gespräche, bleibt in Kontakt. „Was ich mache, ist keine Krisenbewältigung oder Hochglanzkampagne – es ist Beziehungspflege“, sagt sie.
Der Krieg trifft nicht immer den Körper. Aber immer die Seele. Besonders bei Kindern. Manche haben ihre Väter verloren, andere ihre Freund*innen – fast alle ihre Sicherheit. „Unsere Teams bringen Malbücher, Stifte, Springseile, Bälle – alles, was ein bisschen Normalität zurückbringt“, erzählt sie. In den ersten Tagen nach der Flucht steht die Crisis Response Unit bereit. Nicht mit Helmen – sondern mit offenen Armen, offenen Augen, offenen Ohren. Spielen ist keine Freizeitbeschäftigung, sondern Überlebensstrategie. Gegen das Schweigen. Gegen das Erstarren. Gegen das Gefühl, vergessen worden zu sein. Kein „Case Management“, keine standardisierte Betreuung, sondern einfach: Du bist gesehen. Du bist gemeint. Du bist nicht allein.
„Aktuell sind wir aber nicht mehr in der Ukraine“, sagt Cyrilyn. „Es ist für uns einfach zu gefährlich geworden.“ Sie arbeiten weiter – aber eben jenseits der Grenze. In Moldau, wo die Infrastruktur zumindest noch irgendwie steht. Viele andere Organisationen dagegen haben sich komplett zurückgezogen. Zu teuer, zu riskant, zu unübersichtlich, heißt es. Das ist ein strukturelles Problem. Der Raum, in dem nicht-instrumentalisierte Hilfe möglich ist, schrumpft. Die, die bleiben, sind häufig religiöse Gruppen, rechte Netzwerke oder Strukturen, die nicht an Schutz, sondern an Einfluss interessiert sind. Linke, feministische Projekte dagegen verschwinden – finanziell, aber auch politisch. Und damit wächst die Gefahr, dass Hilfe zur Ware wird. Dass Betreuung an Bedingungen geknüpft wird. Dass die Stimmen der Betroffenen im Rauschen untergehen.
Ich schreibe diesen Text mit einem seltsamen Gefühl im Bauch. Ich weiß nicht genau, was ich denke. Alles ist noch verschwommen. Aber klar ist: Dieses Treffen hat mich mitgenommen. Und es wird bleiben. Vielleicht genau deshalb.