Straßen wie in Mecklenburg-Vorpommern, denke ich, als wir mit Geschwindigkeiten durch die Dörfer rasen, die wir in Deutschland niemals erreichen würden. Wir sind längst hinter der polnisch-ukrainischen Grenze. Alles fliegt vorbei. Jedes Dorf sieht gleich und doch unterschiedlich aus. Aber eines haben sie alle: eine glänzende Kirche in der Mitte. Manchmal blau, manchmal gold, manche glitzern wie frisch poliert. Ein Glanz, der alles überstrahlt – auch die Armut daneben.
Die Vorgärten sind schlicht, oft öde. Doch dahinter: Häuser im baltischen Stil. Manche erinnern mich an Ueckermünde, die kleine Stadt an der Ostsee, in der ich als Kind oft war. Vielleicht ist es genau das, was mich hier so frei fühlen lässt. Weniger Angst – mehr ein Gefühl von Weite. Von unendlicher, flirrend schneller Freiheit, die durch mich rauscht wie dieser Bus.
Mark-Uwe würde zu den Straßen wohl sagen: „Streckenweise okay.“ Ich denke: Streckenweise scheiß ich mir fast in die Hose.
Die Stimmung im Bus ist eigenartig. Eine Mischung aus stiller Vorfreude und vorsichtiger Furcht. Vielleicht sind es auch die visuellen Eindrücke. Alle paar hundert Meter eine neue Werbetafel: erst eine animierte Schildkröte, dann Werbung für den Drohnenkrieg. Auf Ukrainisch und Englisch. Immer wieder: Anzeigen für Drohnenpiloten, Artillerieeinheiten, Panzerfahrer.
Es bewegt mich. Aber in welche Richtung? In Deutschland würde mich so etwas abstoßen. Hier fühlt es sich anders an.
Ich bin gegen Krieg. Immer. Gegen jeden. Aber was ist mit einem solchen Überfall? Die Ukraine war nicht der Aggressor. Wie soll sich ein überfallenes Land verhalten?
Zuschauen – keine Option. Kämpfen – vielleicht. Doch kein Staat ist es wert, dafür zu sterben.
Was wäre angemessen? Gibt es überhaupt ein Richtig in solchen Momenten?
Krieg ist kein Naturereignis. Kein Sturm, der einfach passiert. Er ist gemacht. Und er könnte unterlassen werden.
Wir halten an einer Raststätte.
Drinnen – Monitore, überall. Auf allen Bildschirmen: brennende Drohnen in Pixelgrafik. Daneben: „Donut plus – Drohne minus.“ Auf dem Kaffeebecher? Dasselbe.
Ich bestelle einen Kaffee und schlucke das Gefühl runter, dass mir das gerade zu viel ist. Oder zu viel Sinn macht.
Im Bus sitzen 58 Menschen. Seit der Abfahrt in Chemnitz hat sich daran wenig geändert. 4 davon sind männlich gelesen: Ich, die zwei Fahrer und ein älterer Wessi, der mich an der ukrainischen Grenze angesprochen hat. Er fragte mich, was ich in der Ukraine will. Ich sagte, ich bin Journalist, unterwegs für eine Woche. Ich fragte ihn zurück. Doch bevor er antworten konnte, trat er vor zum Schalter. Ich habe ihn danach nicht mehr gefragt.
Dass so wenige Männer im Bus sind, hat einen Grund.
Männliche Ukrainer dürfen kaum ausreisen. Generalmobilmachung, Wehrpflicht, Grenzkontrollen. Wer flieht, riskiert bis zu 12 Jahre Haft.
Aber viele wollen auch gar nicht fliehen. Besonders ältere Männer. In Berufen, die bei uns unter „öffentlicher Dienst“ laufen würden, arbeiten hier fast nur Männer, die mein Großvater sein könnten. Und ehrlich: Ich glaube, mein Großvater hätte in dieser Situation auch gekämpft.
Nicht, weil Krieg ehrenhaft wäre. Sondern weil es manchmal nicht anders geht.
Der Bus setzt sich wieder in Bewegung. Draußen fliegt das Land vorbei. In mir: Widersprüche, Fragen, Bilder.
Und irgendwo dazwischen das Gefühl, dass ich genau jetzt da sein muss.