Drei Stunden Antifa
Zehntausende blockieren die Gründung der AfD-Jugend. Die Polizei antwortet mit Härte. Die Politik inszeniert sich als Beobachterin. Und die extreme Rechte profitiert vom Vakuum.
Die Stadt Gießen hat am letzten Winterwochenende einen Ausnahmezustand erlebt, der nicht nur lokalpolitische Spuren hinterlässt, sondern auch weit über Hessen hinaus signalisiert, wie sich der gesellschaftliche Konflikt um die extreme Rechte verschärft. Während zehntausende Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet den Aufruf des Bündnisses Widersetzen folgten und die Gründung der neuen AfD-Jugendorganisation blockieren wollten, reagierte der Staat mit einem Polizeieinsatz historischen Ausmaßes. Die Gründung der sogenannten „Generation Deutschland“, die den radikalisierten Kern der ehemaligen Jungen Alternative in neuem Gewand präsentiert, wurde trotz aller Bemühungen nicht verhindert. Doch der Tag hat gezeigt, dass die extreme Rechte sich nur noch unter massivem staatlichem Schutz versammeln kann.
Schon Tage vor der Veranstaltung war die Atmosphären in Gießen aufgeladen. Die Polizei kündigte den größten Einsatz in der Geschichte der Stadt an und riegelte ganze Teile der Weststadt ab. Innenminister Roman Poseck sprach von einer „Großlage“, als stünde ein Katastropheneinsatz bevor. Tatsächlich war an diesem Samstag alles auf Eskalation vorbereitet. Wasserwerfer, Reiterstaffeln, Hundeeinheiten, martialisch ausgerüstete Beamt:innen in Vollmontur – das Bild, das Gießen bot, erinnerte weniger an eine demokratische Demonstrationskultur als an die Abschirmung einer autoritären Veranstaltung, die ohne massive Sicherheitsapparate nicht stattfinden könnte.
Während das Bündnis Widersetzen über Wochen hinweg Aktionskarten, Anreisehinweise und Sitzblockade-Aufrufe verbreitet hatte, betonte die Polizei immer wieder vermeintliche Gefahren durch „Linksextremist:innen“. Die Landesregierung sprach früh von einem „bürgerlichen Protest“, den eine „kleine extremistische Gruppe“ unterwandern wolle – eine künstlich konstruierte Erzählung, die kaum verbergen konnte, dass der eigentliche politische Druck aus der Breite der Gesellschaft kam. Mehr als 50.000 Menschen, darunter Gewerkschaften, Kirchen, Kulturinitiativen, Studierendengruppen, Parteien, lokale Bündnisse und unzählige private Akteur:innen, reisten an, um gegen die Jugendorganisation einer Partei zu protestieren, die offen rechtsextreme Inhalte bejubeln lässt und deren Funktionär Jean-Pascal Hohm Verbindungen zur Identitären Bewegung pflegt.
Dennoch spielte sich ein Großteil des Protests außer Sichtweite des Geschehens ab. Während auf dem Anlagenring zehntausende Menschen zu Kraftklub und Juli tanzten und versuchten, der angespannten Lage etwas Leichtigkeit zu verleihen, räumte die Polizei nach und nach mehrere Blockaden. Dabei setzte sie Pfefferspray, Schlagstöcke und Wasserwerfer ein – bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Teilweise griffen Einsatzkräfte Protestgruppen im Sprint an, Schlagstöcke erhoben, laut schreiend, als ginge es darum, Feinde zu vertreiben, nicht demokratische Bürger:innen, die ihr Grundrecht auf Protest ausübten.
Verletzte gab es auf beiden Seiten, doch die politische Deutung folgte einem bekannten Muster: Die AfD versuchte sofort, sich selbst als Opfer zu inszenieren. Parteichefin Alice Weidel fabulierte von „Terror“ und vergliech friedliche Demonstrant:innen in grotesk geschichtsrevisionistischer Manier mit der SA. Am Mittwoch inszenierte die Partei im Bundestag eine Sondersitzung über angebliche „linksextreme Gewalt“ und verbreitete erneut die Verschwörung, Protestierende würden für ihr Engagement bezahlt. So wiederholt sich die rechte Strategie: Gewalt wird verharmlost, Protest kriminalisiert, und die Realität wird so lange verbogen, bis sie zur Opfererzählung der AfD passt.
Dabei war die Realität in Gießen unmissverständlich. Der CDU-Abgeordnete Frederik Bouffier sagte selbst im Bundestag, es sei die Gründung einer extrem rechten Jugendorganisation gewesen, die die Proteste ausgelöst habe. Hohm brüste sich mit Nähe zur Identitären Bewegung, im Saal werde „millionenfache Remigration“ bejubelt. Hier entstehe Extremismus, nicht draußen auf der Straße. Die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic, selbst Polizeibeamtin, sprach von über 30.000 friedlichen Demonstrierenden und betonte, die Gefahr für die Demokratie sei von denjenigen ausgegangen, die sich in der Halle versammelt hatten. Desiree Becker von den Linken dankte der Stadtgesellschaft und kritisierte die Härte des Polizeieinsatzes, die sich gegen Menschen richtete, die sich dem organisierten Rechtsextremismus entgegenstellten.
Doch die Proteste hatten auch eine andere, interne Dimension. Teile der antifaschistischen Linken, darunter die Antifaschistische Revolutionäre Aktion Gießen, lokale KP-Strukturen, die DKP und SDS-Gruppen, hatten bewusst nicht zu den Großprotesten mobilisiert. Ihr Vorwurf: Der dominante Antifaschismus sei zu eng mit dem liberalen Status quo verwoben und stabilisiere letztlich bestehende Herrschaftsverhältnisse. Während die AfD als Feindbild fixiert werde, betrieben CDU, SPD, Grüne und FDP selbst autoritäre Formierungen – durch Militarisierung, Repression, Aufrüstung und Sozialabbau. Blockaden gegen die AfD würden diese normalisieren, disziplinieren und letztlich regierungsfähig machen, statt ihnen die gesellschaftliche Basis zu entziehen. Ein weithin sichtbares Banner brachte ihre Position auf den Punkt: „Ob CDU, ob SPD – das ist uns ganz egal. Ob Grüne oder AfD: Es herrscht das Kapital.“
Diese Kritik traf einen wunden Punkt der deutschen Antifa-Landschaft. Tatsächlich war der Protest in Gießen breit, groß, zivil und bürgerlich geprägt. Doch die Frage, ob eine Politik, die selbst Geflüchtete entrechtet, Überwachung ausweitet, Grenzen militarisiert und soziale Sicherheiten abbaut, glaubwürdig als Bollwerk gegen rechts auftreten kann, bleibt offen. Gießen zeigte deshalb auch einen Riss zwischen verschiedenen linken Strömungen, der sich in Zukunft weiter vertiefen könnte.
Parallel entlud sich Unmut in der lokalen Wirtschaft. Die IHK Gießen kritisierte den Betreiber der Hessenhallen, der trotz rechter Kontakte und trotz öffentlicher Debatte an der Vermietung festhielt. Einige Unternehmer:innen schlugen sogar vor, wirtschaftlichen Druck auf die Messe Gießen GmbH auszuüben, bis hin zur Nichtvergabe von Aufträgen und einem Boykott eigener Veranstaltungen in den Hallen. Der Einzelhandel klagte über massive Umsatzeinbußen, manche Geschäfte sprachen von einem Einbruch um die Hälfte. Ein früherer IHK-Präsident bezeichnete die gesamte Veranstaltung als „Strafe für die Stadt Gießen“, lobte aber zugleich den Bürger:innenprotest und kritisierte Innenminister Poseck, der Ausschreitungen übertrieben dargestellt habe.
Währenddessen kündigte das Bündnis Widersetzen an, sein Engagement zu verschärfen. Für den AfD-Parteitag im Sommer in Erfurt seien neue Blockaden geplant, erklärte der Sprecher Noa Sander, der im Bundestag scharf formulierte, ziviler Ungehorsam sei notwendige Antwort auf das Versagen der Politik. Die Kriminalisierung antifaschistischen Handelns und die Übernahme rechter Diskurse durch die Regierungsparteien zeigten, dass konsequenter Widerstand unverzichtbar sei.
Auch im hessischen Landtag wird der Polizeieinsatz ein Nachspiel haben. Die Grünen wollen im Innenausschuss über Verhältnismäßigkeit, Grundrechtsschutz und das Vorgehen der Einsatzkräfte sprechen. Während die AfD von „linksextremem Terror“ fantasierte, werden in der parlamentarischen Aufarbeitung andere Themen im Vordergrund stehen: die massiven Grundrechtseingriffe, der Einsatz von Gewaltmitteln gegen Sitzblockaden, martialische Angriffe auf Protestzüge und die Frage, warum eine extrem rechte Organisation nur unter staatlicher Hochsicherheitslogistik existieren kann.
Gießen war an diesem Wochenende kein Ausnahmefall, sondern ein Spiegel. Ein Spiegel dafür, wie weit die extreme Rechte bereits vorgedrungen ist, wie entschlossen zivilgesellschaftlicher Widerstand sein kann, wie brüchig die Schutzbehauptung eines liberalen Staats ist, der gegen rechts Position beziehe, während er Protest gegen rechts kriminalisiert und körperlich angreift. Es war ein Spiegel dafür, wie viele Menschen sich nicht einschüchtern lassen – und wie viele Institutionen längst eingeschüchtert wirken. Und es war ein Spiegel dafür, dass Antifaschismus nicht nur der Kampf gegen die AfD ist, sondern der Kampf gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Partei hervorbringen.
Die Gründung der „Generation Deutschland“ fand statt, aber nur durch die geballte Kraft des Staates. Der Protest fand ebenso statt – durch die geballte Kraft einer Gesellschaft, die sich weigert, die Zukunft Faschist:innen zu überlassen. Was in Gießen sichtbar wurde, war kein Scheitern der Blockaden. Es war eine Machtdemonstration: Die extreme Rechte kann sich nur noch unter Polizeischutz versammeln. Der antifaschistische Widerstand hingegen steht millionenfach im Licht der Öffentlichkeit. Und er ist bereit, wiederzukommen.
Der Widerstand in Gießen hat gezeigt, wie wichtig es ist, gemeinsam gegen die extreme Rechte zu stehen. Doch damit der Kampf gegen Faschismus und für eine solidarische Gesellschaft weitergeht, brauchen wir eure Erfahrungen, Eindrücke und Geschichten von den Protesten.
Ob ihr vor Ort wart, Blockaden unterstützt habt oder aus der Ferne mitgefiebert habt – jeder Bericht hilft uns, den Widerstand sichtbarer und stärker zu machen. Eure Perspektiven sind entscheidend, um zu zeigen, wie vielfältig und entschlossen der antifaschistische Protest ist.
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