Exekutive über Recht
Wenn Polizeigewalt zur Normalität wird – und der Widerstand dagegen zur Straftat
Die jüngsten Recherchen von FragDenStaat offenbaren ein System, das nicht nur selektiv straft, sondern tief in autoritäre Logiken eingebettet ist. In neun Bundesländern – darunter Sachsen, Thüringen und Bayern – existieren geheime Justizverfügungen, die festlegen: Wo Polizist*innen betroffen sind, ist Milde nicht vorgesehen. Selbst kleinste Delikte sollen konsequent angeklagt werden. Geringfügigkeit? Einstellung? Entlastung der Justiz? Gilt nicht – wenn die Staatsmacht betroffen ist.
Was sich hier abzeichnet, ist nichts weniger als ein Sonderstrafrecht zugunsten der Exekutive. In der Realität linker Bewegungen bedeutet das: Wer sich gegen Polizeigewalt wehrt, wer sich nicht demütig fügt, sondern Haltung zeigt, wird kriminalisiert – oft mit dem Vorwurf des „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“. Eine bloße Körperspannung, das passive Verharren bei einer Räumung, das Abwenden des Kopfes – reicht. Und: Wer versucht, selbst Anzeige zu erstatten, bekommt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Gegenanzeige.
Das ist keine Übertreibung, sondern systematisch belegbar. Anwält*innen raten Betroffenen inzwischen häufig davon ab, überhaupt Anzeige zu erstatten – aus Sorge vor härterer Strafverfolgung. Der Strafrahmen beginnt bei drei Monaten Haft. Keine Bagatelle. Kein Zufall. Sondern Kalkül.
Der Staat schützt sich selbst – mit allen Mitteln. Und genau hier wird deutlich, dass wir es nicht mit Einzelfällen zu tun haben, sondern mit struktureller Ungleichheit vor dem Gesetz. Während Polizistinnen durch interne Berichte, Korpsgeist und Glaubwürdigkeitsvermutung systematisch im Vorteil sind, fehlt zivilen Aktivistinnen oft der Zugang zu Beweismitteln, Rechtsberatung und öffentlicher Solidarität. Hinzu kommt: Die internen Rundverfügungen sind geheim. Verteidiger*innen haben keinen Zugang. Betroffene wissen oft nicht einmal, dass solche Regelungen existieren. Das ist nicht nur intransparent – es ist ein Angriff auf rechtsstaatliche Grundprinzipien.
Und es ist kein Zufall, dass solche Maßnahmen vor allem linke, feministische und antirassistische Bewegungen treffen. Wer für Transrechte kämpft, für Klimagerechtigkeit oder gegen Faschismus aufsteht, wird von dieser Zwei-Klassen-Justiz systematisch entrechtet. Denn es geht nicht nur um „Sicherheit“, sondern um Kontrolle. Um Disziplinierung. Um die gezielte Schwächung emanzipatorischer Kräfte.
Diese Justiz schützt keine Schwachen – sie schützt die Macht. Sie schützt ein patriarchales, rassistisches und autoritäres System, das tief in Polizei, Gerichte und Behörden eingeschrieben ist. Und sie tut das mit bürokratischer Effizienz: Im Namen der öffentlichen Ordnung, im Gewand des Rechtsstaats.
Es braucht unabhängige Kontrollinstanzen. Und es braucht eine solidarische Öffentlichkeit, die Polizeigewalt nicht länger als Randthema behandelt, sondern als das, was sie ist: ein Angriff auf Grundrechte – und auf alle, die sich gegen Unterdrückung wehren.
Polizeigewalt ist kein Betriebsunfall. Sie ist die autoritäre Antwort auf eine Gesellschaft im Aufbruch. Und sie wird nicht aufhören, solange wir nicht kollektiv Nein sagen. Nein zu staatlicher Repression. Nein zur Zwei-Klassen-Justiz. Nein zur Kriminalisierung von Protest.
Der Rechtsstaat darf kein Schutzschild der Repression sein. Sondern muss Schutzraum für Widerstand werden.