Fremdsprache - Fremdkörper
Misstrauen, Macht und Krieg - über Sprache als Grenze in der Ukraine
„Do you speak English?“ – eine scheinbar harmlose Frage. Und doch wird sie hier, in der Ukraine, zu einem sozialen Minenfeld. Während ich durch Kyjiw, Lwiw oder Saporischschja reise, stoße ich immer wieder auf eine spürbare, oft eisige Reaktion: Schweigen, ablehnende Blicke, ein Ausweichen. Erst wenn ich hinzufüge, dass ich Journalist bin, wandelt sich die Haltung. Plötzlich werde ich angelächelt, bekomme Informationen, werde unterstützt. Warum?
Dieser Artikel ist der Versuch, diese Reaktion zu verstehen. Es geht um mehr als nur Sprache. Es geht um Vertrauen und Verrat. Um Erinnerung und Krieg. Um westliche Arroganz und die Macht der Worte.
Sprachgrenzen sind Machtgrenzen
Die Ukraine ist ein mehrsprachiges Land. Ukrainisch und Russisch sind tief verwoben mit Geschichte, Identität und Gewalt. Seit dem Angriffskrieg 2022 ist Ukrainisch zur Sprache des Widerstands geworden. Russisch hingegen zur Sprache der Besatzung – auch wenn viele Menschen es weiterhin sprechen, teils als Muttersprache. Englisch jedoch? Ist weder das eine noch das andere. Englisch steht für den Westen. Für Beobachtung. Für Medien. Für NGOs. Für Geld. Für Privilegien. Für all jene, die kommen, schauen, urteilen – und wieder gehen.
Ich spreche Englisch – und werde sofort in dieses Bild eingeordnet. Ich bin ein Fremdkörper. Ich komme von außen. Und das wird nicht nur gehört, sondern gefühlt. Sprache ist hier keine neutrale Kommunikationsform – sie ist ein Marker: für Nähe oder Distanz, für Zugehörigkeit oder Macht.
Der Misstrauensreflex
Die Ukraine hat gelernt, vorsichtig zu sein. In einem Land, das täglich bombardiert wird, ist Misstrauen kein Defizit, sondern Überlebensstrategie. Wer bist du? Was willst du hier? Arbeitest du für eine Organisation? Für einen Geheimdienst? Bist du hier, um zu helfen – oder um zu nehmen?
Dieses Misstrauen ist nicht unhöflich. Es ist funktional. Viele Ukrainerinnen wurden von westlichen Akteurinnen enttäuscht. Journalistinnen, die ohne Rücksprache filmen. Freiwillige, die übergriffig auftreten. NGOs, die paternalistisch helfen. Instagram-Touristinnen, die sich mit Soldat*innen ablichten. Dieses kollektive Gedächtnis hinterlässt Spuren.
Wenn ich in gebrochenem Englisch eine Frage stelle, hören die Menschen nicht nur meinen Akzent – sie hören die Geschichte ihrer Enttäuschung mit. Und sie schützen sich. Es ist ein Nein, das nicht gegen mich gerichtet ist, sondern gegen das, wofür ich stehe: die westliche Außenwelt.
„I lost too many people“
In Saporischschja, während einer Fahrt mit einem Taxifahrer, frage ich ihn, ob er jemanden im Krieg verloren hat. Er antwortet: „Too many. I think everyone in this country did.“ Ich frage nicht weiter.
Diese Antwort hallt nach. Es ist eine Wahrheit, die mehr erklärt als jede Analyse: Die Menschen hier trauern. Täglich. Um Brüder, Freundinnen, Nachbarinnen, Väter. Sie tragen diese Verluste im Alltag, beim Arbeiten, beim Essen, im Gespräch mit Fremden. Sie haben keine Energie für Smalltalk mit Menschen, die vielleicht morgen schon wieder im sicheren Berlin oder Paris sind.
Und wenn dann jemand kommt und auf Englisch nach dem Weg fragt oder ein Interview will, ist das manchmal einfach zu viel. Es öffnet eine Wunde, die mühsam verschlossen war. Also: lieber schweigen.
Warum Journalist*in zu sein Türen öffnet
Erst wenn ich sage, dass ich Journalist bin, ändert sich die Situation. Nicht weil das Vertrauen plötzlich da ist – sondern weil meine Rolle geklärt ist. Ich bin nicht mehr Tourist, nicht mehr vager Fremder, nicht mehr Westler auf Durchreise. Ich bin jemand, der dokumentiert. Der erzählt. Der nicht nur nimmt, sondern auch zurückgibt. Der bleibt. Zumindest für eine Weile.
Diese Erklärung hat Macht. Sie übersetzt mein Englisch in etwas Verständliches. Sie zeigt, dass ich nicht bloß neugierig bin, sondern Verantwortung übernehme. Und viele Menschen reagieren darauf mit Offenheit. Nicht aus Naivität, sondern aus einer tiefen Hoffnung: Dass ihre Geschichten gehört werden. Dass ihr Leiden nicht vergessen wird.
Die andere Seite: privilegiertes Reisen im Kriegsland
Doch ich wäre unehrlich, würde ich diesen Artikel ohne Selbstkritik schreiben. Ich bin hier. Ich darf reisen. Ich habe Geld, Papiere, Verbindungen. Ich kann mir Hotels leisten, Equipment, Zugtickets. Ich kann jederzeit zurück. Das ist ein Privileg. Eines, das viele Menschen hier nicht haben – und das viele spüren, wenn ich auf Englisch spreche.
Ich sehe es in den Blicken. In den Reaktionen. In der Kälte. In der Abwehr. Und ich spüre, dass auch ich – trotz aller journalistischen Haltung – Teil einer globalen Ungleichheit bin, die sich in Sprache, Auftreten und Bewegung niederschlägt. Wer spricht, hat Macht. Wer schweigt, schützt sich.
Und doch: Begegnung ist möglich.
Trotz aller Distanz gibt es sie: die Momente echter Nähe. Ein Blick, ein Lächeln, ein Gespräch, das über Sprachbarrieren hinweg funktioniert. Ein stilles Verstehen. Ein geteilter Kaffee in der Sonne, während der Luftalarm auf dem Handy piept. Ein Satz wie: „Danke, dass du hier bist.“ Er kommt selten. Aber wenn er kommt, verändert er alles.
Sprache als Schlachtfeld
In der Ukraine ist Sprache nicht neutral. Sie ist Waffe, Schutzschild, Erinnerung. Wer Englisch spricht, spricht nicht nur eine Sprache – sondern trägt Geschichte mit sich. Das gilt auch für mich. Und ich muss lernen, damit umzugehen. Mit Demut. Mit Respekt. Und mit der Einsicht, dass nicht alle Türen aufgehen müssen. Dass auch ein Nein ein Ausdruck von Selbstschutz sein kann.
Dieser Text ist kein Urteil über „die Ukrainer*innen“ – sondern ein Versuch, ein eigenes Erleben politisch einzuordnen. Es geht nicht um Schuld. Es geht um Macht. Um Misstrauen. Und darum, dass unsere Sprache manchmal mehr sagt, als wir denken.
“Do you speak English?” – A seemingly harmless question. Yet here, in Ukraine, it becomes a social minefield.
As I travel through Kyiv, Lviv or Zaporizhzhia, I keep encountering a noticeable, often icy response: silence, dismissive looks, avoidance.
Only when I add that I’m a journalist does the attitude shift. Suddenly there are smiles, information, support.
But why?
This article is an attempt to understand that reaction. It’s about more than just language.
It’s about trust and betrayal. Memory and war. Western arrogance and the power of words.
Language boundaries are boundaries of power
Ukraine is a multilingual country. Ukrainian and Russian are deeply intertwined with history, identity, and violence. Since the full-scale invasion in 2022, Ukrainian has become the language of resistance. Russian, on the other hand, has become the language of occupation – even though many still speak it, often as their mother tongue.
And English? It’s neither.
English stands for the West. For observation. For media. For NGOs. For money. For privilege.
For all those who come, watch, judge – and leave again.
When I speak English, I’m instantly placed into that image. I’m an outsider. I don’t belong. And that’s not just heard – it’s felt.
Here, language isn’t a neutral tool of communication. It’s a marker: of closeness or distance, of belonging or power.
The reflex of mistrust
Ukraine has learned to be cautious. In a country that is bombed daily, mistrust isn’t a flaw – it’s a survival strategy.
Who are you? Why are you here? Do you work for an organization? A secret service? Are you here to help – or to take?
This mistrust isn’t rude. It’s functional.
Many Ukrainians have been disappointed by Western actors. Journalists filming without consent. Volunteers acting inappropriately. NGOs offering help with a paternalistic tone. Instagram tourists posing with soldiers.
That collective memory leaves traces.
When I ask a question in broken English, people don’t just hear my accent – they hear the history of their disappointment.
And they protect themselves.
It’s a “no” not directed at me as a person, but at what I represent: the Western outside world.
“I lost too many people”
In Zaporizhzhia, during a cab ride, I ask the driver if he lost anyone in the war. He answers: “Too many. I think everyone in this country did.”
I don’t ask any further.
That answer lingers.
It holds more truth than any analysis: the people here are grieving. Every day.
For brothers, friends, neighbors, fathers. They carry that grief in their daily lives – at work, at dinner, in conversations with strangers.
They have no energy for small talk with people who might be back in safe Berlin or Paris tomorrow.
So when someone comes and asks for directions in English, or wants an interview – it’s sometimes simply too much.
It opens a wound that was barely closed.
So: better to stay silent.
Why saying “I’m a journalist” opens doors
Only when I say I’m a journalist does the dynamic change.
Not because trust suddenly appears – but because my role becomes clear.
I’m no longer a tourist, no longer a vague stranger, no longer a Westerner passing through.
I’m someone who documents. Who tells stories. Who doesn’t just take, but also gives something back. Someone who stays – at least for a while.
That explanation carries power.
It translates my English into something understandable.
It signals that I’m not just curious, but that I take responsibility. And many people respond with openness.
Not out of naivety, but out of a deep hope:
That their stories will be heard.
That their suffering won’t be forgotten.
The other side: privileged travel in a war-torn country
But I wouldn’t be honest if I wrote this without self-criticism.
I’m here. I get to travel. I have money, papers, connections.
I can afford hotels, equipment, train tickets.
I can go back anytime.
That’s a privilege. One that many people here don’t have – and one that’s felt every time I speak English.
I see it in the looks. In the reactions. In the coldness. In the defensiveness.
And I feel that – despite all my journalistic intentions – I’m still part of a global inequality that expresses itself in language, presence, and movement.
Those who speak, hold power.
Those who stay silent, protect themselves.
And yet: connection is possible.
Despite all the distance, those moments of real closeness exist.
A glance, a smile, a conversation that somehow works beyond language.
A silent understanding.
A shared coffee in the sun while the air raid app goes off.
A sentence like: “Thank you for being here.”
It’s rare.
But when it comes, it changes everything.
Language as battlefield
In Ukraine, language is not neutral.
It’s a weapon, a shield, a memory.
Those who speak English don’t just speak a language – they carry history.
That includes me.
And I need to learn to handle that – with humility. With respect.
And with the understanding that not every door has to open.
That even a “no” can be a form of self-protection.
This text is not a judgment about “the Ukrainians” – but an attempt to frame my own experience politically.
It’s not about guilt.
It’s about power.
About mistrust.
And about the fact that sometimes, our language says more than we intend.