Dienstagmorgen. Ich sitze in meiner Pause, trinke Kaffee, frühstücke mein Brötchen – wie immer. Mir ist langweilig, also nehme ich mein Handy in die Hand und öffne Instagram. Plötzlich explodiert meine Timeline: Videos, Fotos, Posts – überall Bilder brutaler Polizeigewalt. Ich denke: „Scheiße, was ist denn hier los?“ Beim genaueren Hinsehen erkenne ich: Das ist Leipzig.
Sofort schreibe ich einige der Accounts an, frage, ob jemand mit mir sprechen möchte. Wenige Stunden später bekomme ich eine Antwort. Ich verabrede mich mit Tim vom Studierendenkollektiv Leipzig zu einem Telefoninterview. Was ich erfahre, schockiert mich – aber lest selbst:
Am Montag hatte in Leipzig eine pro-palästinensische Demonstration stattgefunden. Angesichts der aktuellen Lage in Palästina wurde sie spontan angemeldet und verlief zunächst ruhig – fast schon überraschend entspannt. Doch an der Endkundgebung kippte die Situation.
Polizist*innen begannen gezielt Gesichter von Demonstrant*innen mit Fotos abzugleichen, zogen Einzelpersonen aus der Versammlung heraus und fotografierten und filmten sie. Tim vermutet: Das war eine gezielte Vergeltungsaktion – wegen der revolutionären 1.-Mai-Demo vor wenigen Wochen.
Einige Demonstrierenden wollten einer drohenden Einkesselung entgehen und flüchteten in eine Straßenbahn. Rund 20 Fahrgäste waren bereits an Bord, die Situation war angespannt. Doch es blieb nicht unbemerkt: Die Polizei riegelte die Bahn ab.
Beamt*innen versuchten, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen – erfolglos. Der Straßenbahnfahrer folgte den Anweisungen der Polizei, hielt an einer geeigneten Stelle und öffnete die Türen. Rund 50 Demonstrant*innen saßen nun fest. Die Bahn fuhr stundenlang nicht weiter.
Die Polizei wechselte zwischen dem Versuch, in die Bahn einzudringen, und der Strategie, sie komplett zu verschließen. Niemand wusste, was das Ziel dieser Maßnahme war – auch Tim nicht. Einige Zivilist*innen verließen die Bahn in Wellen, um die Polizeiaktion zumindest kurzzeitig zu unterbrechen und um der Gewalt Einhalt zu gebieten.
Tim erinnert sich: „Beim Aussteigen rief uns jemand zu: ‚Ihr seid Held*innen! Haltet durch!‘ Ich war stolz.“
Immer mehr Menschen kamen zur Unterstützung. Die Nachricht verbreitete sich schnell: Alle, die Zeit hatten, sollten zum Ort des Geschehens kommen. Was früher Telefonketten waren, sind heute Nachrichtengruppen. Das Prinzip bleibt – und es funktioniert.
Eine Spontankundgebung wurde aufgebaut: Mikrofon, Lautsprecher – alles war da.
Gleichzeitig begann die Polizei, einzelne Personen aus der Bahn zu holen – unter Anwendung massiver Gewalt. Doch nicht nur die Eingeschlossenen wurden angegriffen. Auch die Menschen draußen, die sich passiv gegen die Repression stellten, wurden mit Pfefferspray und Schlagstöcken attackiert.
Tim schätzt: Zwischenzeitlich waren 150 Menschen vor Ort. „Auch Gruppen, die sich sonst von uns distanzieren, solidarisierten sich.” Es gab keine Splittergruppen – wir waren alle Antifa. Alle links. Alle gemeinsam.
In der Straßenbahn wurde es immer heißer, die Scheiben beschlugen, es fühlte sich an wie eine Sauna. Irgendwann konnten einige Betroffene ihre Blase nicht mehr halten – in leere Plastikflaschen wurde uriniert, eine „Pinkelecke“ improvisiert.
Was für die Eingeschlossenen demütigend war, schien für manche männliche Polizisten ein Spektakel zu sein: „Sie starrten wie auf eine Show“, erzählt Tim. „Es war, als wären wir in einer Glasvitrine. Alles war sichtbar.“
Dann der Schock: Eine Genossin erlitt einen epileptischen Anfall und wurde bewusstlos. Doch medizinisches Personal durfte nicht zu ihr durch.
Nach kurzer Abstimmung entschloss sich die Gruppe, sie gemeinsam aus der Bahn zu tragen. Auch das geschah nur unter heftigem Widerstand seitens der Polizei – für die Beamt*innen offenbar eine weitere Gelegenheit, auf Demonstrierende einzuschlagen.
Nach einiger Zeit verlagerte die Polizei ihre Gewalt nach draußen – sie fokussierte sich nun auf die Unterstützer*innen vor der Bahn.
Draußen schlugen Menschen als Reaktion auf die Repression gegen die Scheiben – irgendwann begannen diese zu splittern. Einige Personen aus der Tram, flohen durch ein kaputtes Fenster – und tauchten unter.
Die Beweggründe für das brutale Vorgehen der Polizei sind für Tim bis heute unklar. Vielleicht war es tatsächlich eine Racheaktion für die 1.-Mai-Demo. Sicher ist für Tim nur: Ohne die Eskalation durch die Polizei wäre es nie so weit gekommen.
Besonders im Gedächtnis geblieben ist ihm eine Szene: Eine Genossin fragt einen Beamten, ob es ihm Spaß mache, so brutal gegen Demonstrierende vorzugehen. Seine Antwort: Ein Lachen – und ein deutliches „Ja“.
Später bekomme ich noch eine Nachricht von Tim: „Hab noch mit einer Person gesprochen, der wurde der halbe Schneidezahn weggeknüppelt.“ Kurz darauf noch eine Nachricht: „Knüppel gegen Zahn – Knüppel gewinnt anscheinend.“
Der Tenor dieses Tages:
Zwei bewusstlose Personen. Ein dutzend leicht verletzte. Unzählige blaue Flecken. Ein Polizeibericht voller Lügen.
Aber auch: Eine Solidarität, wie sie viele so noch nie erlebt haben.