Ein konservativer Kulturkampf unter dem Deckmantel angeblicher Plagiatsvorwürfe: Die Wahl der renommierten Juristin Frauke Brosius-Gersdorf zur Bundesverfassungsrichterin wurde verschoben – ein Vorgang, der tief blicken lässt in den Zustand von Demokratie, Rechtsstaat und Geschlechterverhältnissen unter Kanzler Merz.
Am 11. Juli 2025 sollte der Bundestag drei neue Verfassungsrichter*innen wählen. Doch daraus wurde nichts. Auf Drängen der Union wurde die Wahl kurzfristig vertagt – offiziell wegen angeblicher „Unklarheiten“ bei der wissenschaftlichen Arbeitsweise der SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf. Die Juristin, die unter anderem als Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Hannover arbeitet, galt bislang als fachlich unstrittig. Ihre liberale Haltung zur reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen wurde jedoch bereits vorab von rechten und konservativen Stimmen kritisiert.
Was also steckt wirklich hinter dem Widerstand?
Die CDU berief sich in ihrer Kritik auf den bekannten österreichischen Plagiatsjäger Stefan Weber, der die Dissertation von Brosius-Gersdorf (1997) mit der Habilitation ihres Ehemannes (1998) verglich. In einem Beitrag auf X (ehemals Twitter) schrieb Weber allerdings selbst, es gebe keinen Beleg für ein Plagiat. Im Gegenteil: Die Deutung der Union, es lägen Vorwürfe gegen Brosius-Gersdorf vor, sei schlicht „falsch“.
Auch im Bundestag war die Union damit allein: SPD, Grüne und Linke warfen der CDU eine gezielte Kampagne vor. Die Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sprach von einer „Diskreditierung mit Halbwahrheiten“. Die Linken-Vorsitzende Clara Reichinnek nannte das Verhalten der Union ein „durchsichtiges Machtspiel auf dem Rücken einer angesehenen Wissenschaftlerin”.
Was die Union als „falsches Verfahren“ darstellt, wirkt zunehmend wie ein ideologisches Ausschlusskriterium. Brosius-Gersdorf vertritt klare Positionen zur reproduktiven Gerechtigkeit, zum Recht auf Abtreibung und zur Gleichstellung. Ihre fachliche Eignung wird von keiner Seite ernsthaft bezweifelt – ihre Haltung hingegen schon.
In der deutschen Verfassungsrechtsprechung sitzen heute noch immer überproportional viele konservative Männer. Eine progressive Frau mit feministischer Expertise stellt da offenbar eine Gefahr dar – zumindest für jene, die weiterhin Richter*innenposten nach Parteilogik und Lagerdenken vergeben wollen.
Der Fall Brosius-Gersdorf zeigt, was passiert, wenn eine demokratische Institution wie das Bundesverfassungsgericht zur Bühne parteipolitischer Auseinandersetzungen wird. Die Wahl zurdem Verfassungsrichterin erfordert eine Zweidrittelmehrheit – diese Mehrheit können CDU/CSU, SPD und Grüne rechnerisch nur noch gemeinsam erreichen. Das gibt insbesondere der Union eine enorme Blockademacht.
Was daraus wird, ist kein Schutz des Rechtsstaats, sondern ein Spiel mit seiner Glaubwürdigkeit. Der renommierte DLF-Korrespondent Stephan Detjen spricht offen von einer „Kampagne zur persönlichen Beschädigung“ Brosius-Gersdorfs und warnt vor einem strukturellen Problem des Bundestags. Die CDU nutze ihre Schlüsselstellung nicht zur Sicherung der Unabhängigkeit des Gerichts – sondern zur Durchsetzung ihrer kulturpolitischen Agenda.
Während Union und SPD sich im Hickhack verlieren, sitzt die extreme Rechte im Bundestag still dabei – und gewinnt. Die AfD stimmte gegen die Verschiebung der Wahl, nicht aus Prinzipientreue, sondern in Erwartung des maximalen Chaos. Jede Blockade demokratischer Prozesse, jede öffentlich ausgeschlachtete Unsicherheit bei der Richter*innenwahl ist Wasser auf die Mühlen derer, die seit Jahren die Legitimität des Verfassungsgerichts untergraben wollen.
Die verschobene Richterwahl ist mehr als ein parlamentarischer Betriebsunfall. Sie ist ein Symptom dafür, wie tief der politische Rechtsruck auch in den Institutionen greift. Eine angesehene Juristin wird zur Zielscheibe einer durchsichtigen Kampagne – weil sie Haltung zeigt. Und weil sie nicht in das Bild passt, das Konservative von „neutraler Rechtsprechung“ haben.
In einer Demokratie, in der Pluralität und juristische Unabhängigkeit zählen, darf das Verfassungsgericht kein Ort parteilicher Machtspiele werden. Es braucht progressive, diverse, streitbare Persönlichkeiten – keine politisch zurechtgefeilten Kompromissfiguren.
Frauke Brosius-Gersdorf wäre so eine Persönlichkeit gewesen. Ob sie noch einmal aufgestellt wird, ist offen. Dass sie überhaupt ins Visier geraten konnte, sagt jedoch alles über den Zustand dieser Republik im Sommer 2025.