„Sigma Boy“: TikTok-Hit oder Propaganda?
Wie Russland Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene indoktriniert.
Sigma Boy“ ist der aktuelle TikTok-Wahnsinn. Ein Song von Betsy und Marija Jankowskaja, zwei jungen Künstlerinnen aus Russland, der es innerhalb weniger Wochen geschafft hat, in die internationalen Charts zu schießen und die ForYouPages zu dominieren. Kinder tanzen dazu, Influencer nutzen ihn für Sketche, und Spotify listet ihn in seinen Viral Charts. Doch bei allem Glanz und Glamour verbirgt sich hinter diesem viralen Phänomen mehr als nur ein harmloser Pop-Hit.
Der Song trifft mit seinem eingängigen Beat und der simplen Botschaft von Individualismus und Unabhängigkeit den Nerv der TikTok-Kultur. Aber das Konzept des „Sigma Boys“ ist nicht neu. Der Begriff leitet sich vom „Sigma Male“ ab – einer Archetype aus der Manosphäre, die den einsamen, unabhängigen Mann glorifiziert. Ursprünglich eine Alternative zum toxischen Alpha-Beta-Geschwätz, wurde der Sigma-Begriff längst von rechten und antifeministischen Kreisen gekapert. Der Zusammenhang mag den beiden jungen Künstlerinnen nicht bewusst sein, doch er ist da – und er ist problematisch.
Die Herkunft des Songs wirft weitere Fragen auf. Russland ist seit Beginn seines Angriffskriegs gegen die Ukraine politisch isoliert. Streamingplattformen wie Spotify haben sich aus dem russischen Markt zurückgezogen, und Sanktionen sollen verhindern, dass russische Produkte weltweit Erfolg haben. Dennoch findet ein Song wie „Sigma Boy“ seinen Weg durch diese Barrieren und erreicht Millionen von Menschen weltweit. Ist das die Macht des Algorithmus? Oder der geschickte Einsatz von Social Media, um kulturelle Narrative zu verschieben?
Es gibt eine historische Parallele: Musik als Mittel der Propaganda ist nicht neu. Schon immer wurde Kultur genutzt, um politische Botschaften zu transportieren oder die öffentliche Wahrnehmung subtil zu beeinflussen. Selbst wenn „Sigma Boy“ keine bewusste Propaganda ist, stellt sich die Frage, warum gerade dieser Song so massiv gepusht wird. Ist es Zufall, oder steckt eine Strategie dahinter?
Die TikTok-Kultur selbst macht die Verbreitung solcher Inhalte besonders effektiv. Der Algorithmus priorisiert Engagement über alles andere. Es ist egal, ob der Song aus einem isolierten Staat stammt oder einen problematischen Begriff transportiert – Hauptsache, er klickt. Das führt dazu, dass Inhalte ohne Kontext viral gehen können, während ihre politischen oder kulturellen Implikationen unter den Tisch fallen. Das ist keine neue Erkenntnis, doch „Sigma Boy“ führt uns drastisch vor Augen, wie unreflektiert wir Inhalte konsumieren und teilen.
Was bleibt, ist die Diskussion. Für manche ist „Sigma Boy“ einfach ein unschuldiger Pop-Hit. Für andere ein perfides Beispiel dafür, wie leicht Ideologien durch die Hintertür global verbreitet werden können. TikTok und andere Plattformen scheinen entweder nicht in der Lage oder nicht willens zu sein, ihre Verantwortung für die Verbreitung solcher Inhalte zu übernehmen.
Es geht nicht nur um einen Song oder seine Botschaft. Es geht um die Mechanismen, die es erlauben, dass ein Produkt aus einem isolierten Staat internationale Chartspitzen erklimmt. Es geht um die Frage, wie Inhalte, die unbewusst problematische Narrative enthalten, verstärkt und gefeiert werden können. Und es geht darum, ob wir bereit sind, unsere eigene Rolle in diesem Kreislauf zu hinterfragen.
Denn eines ist klar: Der Algorithmus mag blind sein, aber das sind wir nicht. Die Verantwortung liegt bei uns, genauer hinzuschauen. „Sigma Boy“ mag ein Ohrwurm sein, doch was wir dabei hören, geht weit über die Musik hinaus.