Es ist ein stilles Bild. Aber es schreit. Das diesjährige Pressefoto des Jahres zeigt den neunjährigen Mahmoud Ajjour aus Gaza, der bei einem israelischen Angriff beide Arme verlor. Fotografiert von Samar Abu Elouf, aufgenommen für die New York Times, ausgezeichnet mit dem renommierten World Press Photo Award. Das Foto ist mehr als ein Einblick ins individuelle Leid – es ist ein Zeugnis struktureller Gewalt, ein erschütterndes Symbol kolonialer Kontinuitäten und ein Bild, das Fragen stellt: Wer darf leben? Wer wird getötet? Und wer erzählt die Geschichte?
Mahmoud überlebte die Bomben. Doch was heißt überleben, wenn ein ganzes Volk seit Jahrzehnten unter Besatzung lebt, entrechtet, entmenschlicht, vertrieben wird? Abu Elouf, selbst palästinensische Journalistin, wurde wie viele Verletzte nach Doha evakuiert. Ihre Perspektive zählt – nicht als exotische Randstimme, sondern als widerständige Chronistin einer kolonialen Katastrophe, die mit westlicher Unterstützung täglich fortgeschrieben wird.
Neben Mahmouds Porträt wurden zwei weitere Bilder ausgezeichnet. Eines zeigt chinesische Migrant*innen an der Grenze zu den USA, durchgefroren im Regen. Das andere dokumentiert die Klimakatastrophe: Ein junger Mann bringt seiner Mutter Essen – zu Fuß durch das trockengefallene Flussbett im Amazonas. Auch hier sprechen die Bilder leise – aber die Botschaften sind laut: globale Ungleichheit, Gewalt an Grenzen, die Verwüstung der Lebensgrundlagen. Drei Bilder, ein System.
Doch der diesjährige Wettbewerb war nicht nur ein Triumph. Die Jury zeichnete auch den russischen Fotografen Mikhail Tereshchenko aus – einen Reporter der staatlichen Agentur TASS, der die Einnahme Mariupols durch russische Truppen als „Befreiung“ bezeichnete. Ein fatales Signal: Dass koloniale und imperiale Narrative sogar in der Bildsprache des Widerstands mitprämiiert werden, ist kein Zufall, sondern Ausdruck hegemonialer Deutungshoheit.
Fotografie ist nie neutral. Sie ist Teil des Kampfes um Sichtbarkeit, um Wahrheit, um Gerechtigkeit. Und sie kann ein Werkzeug der Befreiung sein – wenn sie denen das Wort gibt, denen es sonst genommen wird. Mahmouds Bild ist ein Aufschrei gegen die Normalisierung des Krieges. Gegen die mediale Routine, mit der Tod und Trauma palästinensischer Kinder in Zahlen gepresst und entpolitisiert werden. Es ist ein Bild, das Haltung verlangt.